Geduld No.1 – Eine Einführung

triggerwarnung: angst, waschen, kontaminationsgedanken, zwangshandeln, körperflüssigkeiten

Gestern morgen sind meine Therapeutin und ich uns zum ersten Mal einig, dass wir langsam versuchen können, die Therapie auszuschleichen. Wieso? Wir uns einig: Mir geht es gut! Ich spaziere glücklich und ausgelassen nach Hause, es kommt eine wunderbare Herbstregenfront, die Blätter fliegen im rauschenden Wind umher und ich stehe auf dem Schwedter Steg und schiebe meine Nase Richtung Wind, unter mir fahren die S-Bahnen. Alles ist wunderbar und alles ist gut. Nach langer Zeit, bald, bestimmt, ganz sicher.

Ich komme nach Hause, koche, esse, packe und fahre los. Ich bin zu Besuch eingeladen bei einer lieben, lange nicht gesehenen Freundin. Sie ist umgezogen und ich bin der erste Besuch – wie schön! Der Besuch ist auch schön, und er ist aufregend. Ich mache viele Sachen, die mir sonst schwerfallen, und ich gehe richtig gut damit um. Ich laufe alleine durch das komplett dunkle Dorf, denn ab 22 Uhr wird die Straßenbeleuchtung ausgeschaltet (Betonung liegt auf Dorf). Ich sehe eine riesige, schwarze Spinne in dem Bauwagen, in dem ich schlafe, und ich entscheide mich dagegen, sie umzusiedeln. Ich lasse sie sein. Ich koche zwar recht angespannt aber doch relativ locker in einer fremden Küche, und zwängel nur wenig beim Händewaschen. Ich lege mich ohne Probleme in ein zwar frisch bezogenes, aber fremdes Bett, weil ich meinen Schlafsack vergessen habe (tf? Am I still me?). Ich warte mehrmals lange allein draußen (im dunklen Dorf, allein, jaha). Ich mache also viele Dinge, die mich normaler Weise viel Energie bräuchten, und es klappt gut. Es klappt wirklich gut. Und ich fahre am Samstag nach Hause und alles ist gut.

Nichts da. Alles war gut, bis ich nach Hause kam. Zuhause ist Zeitdruck: Cassy schläft bei mir, und ich bin mit Sasha verabredet, und ich habe eine Stunde Zeit, mich und meine Wohnung vorzubereiten. Zuhause ist: Das Bett muss umbezogen werden, die Wäsche wegen der kaputten Waschmaschine in Cassys Waschmaschine gewaschen werden, damit das passieren kann, muss ich meine regeldurchblutete, seit einer Woche eingeweichte und nicht ausgewaschene Unterhose auswaschen, und mein Dildo liegt auch ungewaschen irgendwo rum.

Dummerweise sind alles Triggerthemen: Bett, Menstruation(sblut), Vaginalsekrete anderer Form und Farbe, Phallusformen, Verantwortung für andere durch Übernachtenlassen bliblablub. Meine Kontaminationszwänge kicken rein und ich finde mich dabei wieder, nicht nur Dildo und Unterhose, sondern auch das Waschbecken und den Badezimmerboden zu waschen. Glücklicherweise bin ich darin noch immer so geübt, dass ich weitsichtig so wenig wie möglich Seife an meine Hände lasse und gleichzeitig so wenig Handschuhpaare wie möglich verbrauche. Schließlich bin ich ja öko. Und irgendwann ist es geschafft: Alles sauber, ich auch wieder gefühlt, da klingelt es an der Tür. Sasha und Hundi sind schon da. Wir plaudern ein wenig und wollen dann gemeinsam zu Cassy gehen, die Wäsche bringen und den Abend absprechen. Doch da passiert es: Sasha fasst meine Dreckwäsche an, in dem Versuch, die überhängenden Pulloverärmel auch in der Wäscheschüssel zu bugsieren. Ich sage stopp, lauter stopp, ich rufe stopp! Sasha guckt mich an, was ist denn?

Ich mache den Mund auf und wieder zu. Ich fange an zu weinen. Sasha guckt und wartet. Ich weine eine ganze Weile, und versuche schluchzend zu erklären, was los ist. Ich bin selber sehr überrascht von mir. Eben war doch noch alles gut? Ich muss mir eingestehen, dass der Besuch sehr anstrengend war für mich, und ich doch sehr angespannt war die ganze Zeit. Ich muss mir eingestehen, dass ich anscheinend permanent gezwängelt habe, indem ich die Unterhose und den Dildo so lange nicht gewaschen habe. Ich muss mir eingestehen, dass doch noch nicht alles gut ist. Ich bin darüber fast mehr bestürzt als über Sashas – in meinen Augen komplett grenzüberschreitendes – Verhalten. Ich bin ein mutloser Klops, dem gerade auffällt, wie viel noch zu tun ist, und der sich daraufhin selbst bemitleidet.

Sasha sagt: Aber ich will doch immer alles ordentlich haben. Die Ärmel hingen aus der Schüssel. Das ist halt mein Zwang.

Ich sage: Würdest du so heulen, wie ich gerade, wenn du es nicht hättest machen dürfen?

Sasha sagt: Nein.

Ich sage: Dann ist das nicht so ein schlimmer Zwang wie meiner. Außerdem kann man Ticks haben, aber Zwänge sind langfristige Konstrukte mit wesentlich höherem Leidensdruck.

Sasha sagt: Ha. Und jetzt?

Ich sage: Muss ich dich bitten, deine Hände zu waschen.

Sasha sagt: Ich will aber nicht.

Ich sage: Und wenn ich dich bitte?

Sasha geht sich die Hände waschen. Ich fühle mich versagerlicher und weine bitterlich. Später mit Cassy bin ich sehr müde. Wir reden nicht lange. Ich schlafe schlecht und habe den ganzen Sonntag Kopfschmerzen und bin sehr lichtempfindlich. Ich darf nicht aufhören, auf mich aufzupassen, nur weil ich mir jetzt wieder mehr zutraue. Ich darf mich nicht kleinmachen, nur weil das, was ich mir zutraue, für andere normal ist. Ich bin immer noch in der Probierphase, und es muss ok sein, wenn noch nicht alles klappt. Das alles muss ok sein. Und ich weiß: Es ist ok. Es wird okayer, jeden Tag ein bisschen mehr. Was schlimm ist, jetzt gerade, ist der Schreck darüber, wie einfach es war, mein Zwängeln nicht zu bemerken. Ich hab es einfach nicht bemerkt, weil ich endlich mal entspannt sein wollte.

Und ich merke: Auch das, mich nach und mit der Krankheit zu entspannen, muss ich lernen und mir dafür Geduld und Liebe zustehen. Es wird so vieles wieder machbar und dann irgendwann einfacher, und auch das wird machbar und einfacher werden.

Veröffentlicht in ocd

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